Marita Koch: über einen Fabel-Weltrekord, Privilegien im Sportwunderland, Doping und ein bis heute wirkendes olympisches Lügengebilde
Es ist der zweitälteste Weltrekord in der Leichtathletik. Heute vor 40 Jahren lief Marita Koch, mehrmals als "Weltsportlerin" geehrt, beim Weltcup in Canberra die 400 Meter in 47,60 Sekunden: ein Symbol und Produkt des ostdeutschen Staatsdopingsystems. Über zwei Seiten der Medaille.

Alle die glauben, ich würde zum 40. Jubiläum dieses Fabel-Weltrekordes für die Abschaffung von Dopingrekorden und die Neuschreibung von Ergebnislisten plädieren, muss ich enttäuschen. Diese Diskussion haben wir vor vielen Jahren geführt, vehement sogar, in Deutschland mehr als anderswo. Die Antwort darauf hat der organisierte Sport viele Male gegeben.
Es gab in vier Jahrzehnten tausend Möglichkeiten, angemessen mit diesem Teil der Vergangenheit umzugehen, mit all den verseuchten Medaillen und Bestmarken. Die real-existierende Antwort des olympischen Sports lautet:
Wir verdammen bei jeder Gelegenheit die Enhanced Games, dieses perverse Vorhaben von Techno-Faschisten und Investoren – aber wir feiern weiter unsere Sportgeschichte, mit den Trilliarden an Lügen und Ungerechtigkeiten.
Ich will Ihnen einen Teil der Geschichte von Marita Koch und dieses einen Weltrekordes heute mal mit einem Dokument näher bringen, das für mich eines der interessantesten und lehrreichsten war, das ich je ans Tageslicht befördern konnte. Für Spätgeborene und alle, die nicht im Sportwunderland German Democratic Republic gelebt haben, mag das schwer zu fassen sein. Mir hat es, als ich es vor mehr als 30 Jahren in einer noch jungfräulichen Akte im Bundesarchiv, im frisch aufbereiteten Nachlass der Abteilung Sport im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) entdeckte, durchaus geholfen, die Dinge ein bisschen besser zu verstehen und einzuordnen.
Es handelt sich um einen vierseitigen handgeschriebenen Brief von Marita Koch.
Koch war 1985 ein Weltstar – wie Boris Becker von der anderen Seite der Mauer.

Marita Koch wurde in jener Zeit von diversen Institutionen mehrfach als World Athlete of the Year geehrt. Im Januar 1986, drei Monate nach ihrem legendären Weltrekord von Canberra, der eigentlich Endstation ihrer Karriere sein sollte, beschwerte sie sich über DDR-Sportfürst Manfred Ewald, der ihr ein Ultimatum gestellt und gefordert hatte, sie müsse bis zu den Olympischen Spielen 1988 weitermachen. Ewald war zugleich Präsident des Deutschen Turn- und Sportbundes (DTSB) und Mitglied im Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, er wurde später, im Jahr 2000, wegen Beihilfe zur Körperverletzung/Kinderdoping zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt.
Es war anderthalb Jahre nach den Sommerspielen 1984 in Los Angeles, bei denen die DDR-Politbürokratie Rang eins der Nationenwertung geplant hatte, sich aber der Vorgabe aus Moskau beugen und die Veranstaltung boykottieren musste.
Es war kein dreiviertel Jahr nach der IOC-Session in Ost-Berlin, wo Erich Honecker dem IOC-Granden Juan Antonio Samaranch versprochen hatte, dass es 1988 in Seoul keinen weiteren Olympiaboykott geben und die Ostdeutschen definitiv teilnehmen würden.

"Wir (die Leistungssportler) sind ein Heer von Freiwilligen und wer nicht mehr will oder keine Lust mehr hat, der gibt seine Privilegien wieder ab ...
… wer nicht mehr will, gibt seinen Studienplatz (für den der DTSB gesorgt hat) wieder ab und wird ein ganz normaler DDR-Bürger."
Doch bevor ich zu diesem Brief komme, lassen Sie mich die Thematik noch etwas weiter fassen:
Vor einigen Wochen, als die US-Amerikanerin Sydney McLaughlin-Levrone bei der WM im fantastischen Olympiastadion in Tokio im Regen 47,78 Sekunden rannte, wurde die schwer belastete Marke von Marita Koch oft erwähnt. Weniger oft wurde über den Trainer von McLaughlin-Levrone gesprochen. Über Bob Kersee, der für so viele Medaillen und Rekorde steht, für so viele Wunderleistungen, aber doch eher nicht für eine glaubwürdige, zweifelsfrei saubere Leichtathletik.