Nachwuchsförderung im Spitzensport: scheinheilige Begriffe, verfassungswidrige Konzepte
Ein Hauptproblem neuer deutscher Medaillenpläne: Statt zivilgesellschaftliche Verantwortung und Fürsorgepflicht wahrzunehmen, zählt der DOSB die Funktionalisierung der Schulzeit zugunsten des Spitzensports explizit als "ungenutzte Ressource im Vergleich zum Weltmaßstab". KMK und SMK spielen mit.

Am 15. September 2023 präsentierten die für den Spitzensport zuständigen Innenminister der Länder auf ihrer Sportministerkonferenz (SMK) eine erneute Reform zum Neustart der Sportförderung [1] in Deutschland. Ziel der Reform ist es, nicht allein den Abwärtstrend im deutschen Spitzensport zu stoppen, sondern Deutschland zu altem Medaillenglanz zu führen.
Schnell wird jedoch klar, auch die Reform der Reform folgt dem altbekannten Muster ihrer Vorgängerreformen: Die SMK beglückwünscht sich, die im Bundeshaushalt angedrohten Etat-Kürzungen von jährlich rund 27 Millionen Euro abzuwenden und die bisherigen Steuerausgaben von rund 300 Millionen Euro zu erhalten. [2] Im Gegenzug versprechen BMI und DOSB in altbekannter, aber nie eingehaltener Weise, die Steuermittel zukünftig wirklich in deutsches Gold und Silber veredeln zu wollen.
Konkret heißt dies:
- Platz 3 im Medaillenspiegel der Nationen bei Olympischen Winterspielen!
- Platz 5 bei Olympischen Sommerspielen!
Die Notwendigkeit gegenwärtiger Steuerzuwendungen wird somit wiederum allein durch die willkürliche Festlegung zukünftiger Medaillenerwartungen begründet – ohne in irgendeiner Weise darzulegen, warum und wozu Deutschland unbedingt im Glanze eines Medaillenspiegels strahlen bzw. blühen soll.
Zwar wird auf eine "ganzheitliche und differenzierte" Betrachtung des deutschen Spitzensports verwiesen, die über eine eindimensional erfolgsorientierte Medaillenlogik hinausreichen soll. Der dafür notwendige gesamtgesellschaftliche Diskurs wird "angesichts der erforderlichen organisatorischen Anforderungen" und dem befürchteten "beträchtlichen Ressourceneinsatz" jedoch auf die Zukunft verschoben.
Medaillenspiegel und Verblendung
Wieder einmal stehen somit konkrete Medaillen-Erwartungen an die Athleten fest, bevor ein gesamtgesellschaftlicher Diskurs darüber geführt worden wäre, inwieweit eine derart einseitige Erfolgs-Perspektive auf den Spitzensport gerechtfertigt ist bzw. in einer Zivilgesellschaft überhaupt zu rechtfertigen wäre.
Dass die Strahlen eines Medaillenglanzes durchaus zur gesellschaftlichen Verblendung führen können, zeigt bereits die Geburtsstunde des Medaillenspiegels – anlässlich der von Propagandaminister Joseph Goebbels maßgeblich organisierten Olympischen Sommerspiele 1936 in Berlin. Zwar wird die Einführung einer Nationenwertung während der Spiele noch höchstselbst vom IOC mit der Begründung verboten, eine Punktewertung der Nationen widerspreche der olympischen Idee, dass nicht Nationen, sondern Athleten gegeneinander kämpfen sollen. Allerdings ist die Verlockung, die 33 deutschen Goldmedaillen als sinnstiftenden, nationalen Erfolg zu nutzen, wohl zu groß, sodass unmittelbar nach den Spielen eine entsprechende Presseanweisung der NSDAP in Auftrag geht, genau jene, vom IOC verbotene Nationenwertung erstmals zum Zwecke einer national-identitären Funktion zu verbreiten.
Den Medaillenspiegel auch heute noch als Zweck einer staatlichen Förderung des Spitzensports zu verstehen, darf daher mehr als irritieren. Äußerst problematisch wird es aber, wenn sich die Auswirkungen bundesdeutscher Medaillen-Forderungen an ihre Olympia-Teilnehmer eben nicht allein auf die Olympischen Spiele reduzieren, sondern jahrelange Vorbereitungen voraussetzen, die in einzigartiger Weise das gesamte Leben junger Menschen nachhaltig beeinflussen. Es gilt daher zu prüfen, inwieweit derart weitreichende Einschnitte in die Persönlichkeitsrechte und die Einflussnahme von Lebenschancen überhaupt mit den Grundrechten bzw. der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland in Einklang zu bringen sind.
Die Verfassungsfrage: Darf es uns das wert sein?
Die von Athleten Deutschland e.V. öffentlichkeitswirksam diskutierte Gretchenfrage des Spitzensports: Warum ist es uns das wert? [3] wird somit zur Verfassungsfrage einer zivilgesellschaftlichen Spitzensportförderung: Darf es uns das wert sein?
Dass eine Auseinandersetzung mit der Frage aus verfassungsrechtlicher Perspektive in keiner Weise übertrieben scheint, offenbart bereits das am 29. September 2023 von der Bund-Länder-Sport AG veröffentlichte Feinkonzept zur Nachsteuerung und Optimierung der Förderung des Leistungs- und Spitzensports in Deutschland. [4] In diesem heißt es auf Seite 65:
"Der DOSB, seine Spitzenverbände und Landessportbünde sind sich grundsätzlich einig, (…) dass die unverrückbaren Maximen der Leistungs- und Spitzensportförderung in Deutschland wie bspw. Fair Play und Beachtung der Würde des Menschen und dessen Unversehrtheit nicht zu einer Relativierung von Zielen der Leistungssportförderung führen dürfen. Output im Leistungs- und Spitzensport bemisst sich in erster Linie an sportlichen Erfolgen im nationalen und internationalen Vergleich."
Wie ist es aus verfassungsrechtlicher Perspektive zu verstehen, wenn der DOSB die Würde des Menschen und dessen Unversehrtheit zwar als Maxime bezeichnet – die festgelegten Medaillenerwartungen an die Athleten aber anscheinend doch noch etwas über jene Maxime stellt, wenn die Ziele der Leistungssportförderung nicht relativiert werden dürfen?
Oder anders gefragt:
Gesetzt den Fall, die fehlenden Zehntelsekunden zum chinesischen oder russischen Medaillen-Aspiranten würden sich allein durch eine entsprechend dehnbare Interpretation der Würde und Unversehrtheit unserer Athleten aufholen lassen. Was würde schwerer wiegen: die staatliche Fürsorgepflicht oder die staatliche Medaillenerwartung?
Fürsorgepflicht vs. Bringschuld
Den Spitzensport überhaupt in Einklang mit einer rechtsstaatlichen Fürsorgepflicht gegenüber Schutzbefohlenen bringen zu können, setzt voraus, dass die dafür notwendigen Mühen, Strapazen und Entbehrungen aus reiner Freiwilligkeit erbracht werden. Ansonsten würden wahrscheinlich allein die im Spitzensport notwendigen Trainingsumfänge reichen, zumindest Jugendliche in einer Zivilgesellschaft vor derartigen Belastungen schützen zu müssen. [5]
Vor dem Hintergrund konkreter Medaillenforderungen an die Athleten, zu denen sich der DOSB gegenüber dem Steuerzahler und neuerdings auch gegenüber dem Bundesrechnungshof verpflichtet sieht, [6] ist das Prinzip der Freiwilligkeit jedoch durchaus zynisch. So relativiert schon allein das Wesen der Freiwilligkeit prinzipiell jegliche Anspruchshaltung, für freiwillig aufgewendete Mühen einen entsprechenden Ausgleich oder eine Gegenleistung einfordern zu können.
Hinzu kommt die notwendige Unverfügbarkeit bzw. die notwendige Unvorhersehbarkeit des sportlichen Wettkampfs. Das heißt, dass eben nicht notwendigerweise derjenige den Wettkampf gewinnen darf, der vorab die größtmöglichen Entbehrungen auf sich genommen hat. Vielmehr offenbart sich das Faszinosum des Spitzensports nach wie vor allein in den Momenten, in denen der Verlierer freiwillig und somit überflüssigerweise viel mehr zu investieren bereit gewesen ist als der Sieger, im Gegensatz zum Quäntchen Glück des Sieges, aber einfach nur viel mehr Pech in der Niederlage gehabt hat – ungeachtet seiner aufgewendeten Mühen und Entbehrungen.
Zynisch ist die Freiwilligkeit der Athleten für die Athleten zudem, da sie allein in eine Bringschuld gedrängt werden. Im Gegensatz zu den staatlichen Steuerzuwendungen, die seit jeher vorab bzw. schon für die in Aussicht gestellten Medaillenerwartungen an den DOSB gezahlt werden, muss der Athlet Medaillen vorab liefern, um nicht aus der Förderung zu fallen. Wiederum trägt im Falle des Misserfolgs somit allein der Athlet die negativen Konsequenzen. Im Gegensatz zur Kollektivierung des Erfolgs, wenn der Gewinn einer Weltmeisterschaft gemeinsam mit den Siegern als national-identitäres Wir-Gefühl zelebriert wird.
Im scheinheiligsten Sinne gipfelt die allein positiv gewendete Unterstützungslogik des Systems dann darin, sich allein als Helfer und Wegbereiter feiern zu lassen, die Träume erfolgreicher Sportler verwirklicht zu haben – ohne irgendein Verantwortungsgefühl für den Erfolglosen haben zu brauchen. Denn schließlich, so die zynische Argumentation, hat selbst der Talentierteste sich selbst doch freiwillig aufs Spiel gesetzt, in der vorherigen Gewissheit, scheitern zu können.
Fürsorgepflicht und Recht auf Bildung
In einem auf struktureller Freiwilligkeit und Unverfügbarkeit basierenden Spitzensportsystem ist es somit tragisch, aber systemlogisch, wenn die Athleten ihrerseits keinerlei strukturelle Erwartungen stellen können – im Gegensatz zu einem strukturell auf Verpflichtung ausgerichteten System, das dann immer auch entsprechende Rechte für das Individuum vorsieht.